Ankatrins Erinnerungen – Kapitel 06
Diese Geschichte ist real. Wir haben die wundervolle Erlaubnis bekommen, die Erinnerungen einer guten Freundin veröffentlichen zu dürfen. Ein ganz, ganz lieber Dank und Gruß gehen an Ankatrin! (Text: Ankatrin G., Lektorat: Gaby K., Sandra S., Bilder: #WirHabenDieWahl).
Kapitel
Kapitel 6 – Der Besuch im Lazarett
Mit dem Passierschein in der Schürzentasche machte ich mich mit zwei kleinen Körben auf den Weg zu meinen Großeltern. Die Erdbeeren waren reif und ich wollte doch meinen Soldaten im Lazarett eine Freude machen. Ich liebte es, durch den Wald und über meine geliebten Wiesen – ein Wiesental, das “Ober-Italien” genannt wird – zu laufen. Nie konnte ich auf dem Weg, der durch die Wiesen führt, bleiben. Es blühten dort vom Frühjahr bis zum Herbst die schönsten Wiesenblumen, ein Teil davon steht heute unter Naturschutz.
Ankatrins Anmerkungen (heute): ” War gerade draußen und habe meine Tränenden Herzen fotografiert. Das ist die Blume, die im letzten Kapitel noch eine Rolle spielen wird und die einzige, die ich erst 72 Jahre nach dem Tod meines Bruders in meinen Garten aufgenommen habe. Ich konnte bis dahin diese Blume nicht ansehen ohne tiefe Traurigkeit zu empfinden. Es berührt mich noch immer, aber wenigstens ohne Tränen!”
Ich pflückte also regelmäßig einen Strauß, entweder für meine Mutter oder für meine Großeltern. So kam ich mit dem Blumenstrauß bewaffnet bei meinen Großeltern an. Sie schimpften, dass ich allein durch den Wald gegangen war, aber ich durfte die Körbchen mit Erdbeeren vollpflücken. Selig machte ich mich auf den Weg zu meiner Schule und meinen Soldaten. Ich lief den Berg vom Riesebusch mehr herunter als dass ich ging – voller Vorfreude, “meine” Soldaten besuchen zu können.
In der Schulstraße angekommen, stand ich vor der Mauer des Schulhofes, der ein wenig erhöht lag, und marschierte zielstrebig auf die Stufen zu, die zum Schulhof führen. Doch kaum hatte ich den ersten Schritt getan, da stand auch schon auf der obersten Stufe ein Soldat mit geschultertem Gewehr und verwehrte mir den Zutritt. Ich zückte also meinen Passierschein.
Ich wusste, dass ich jetzt sehr schnell sein musste, denn der Passierschein hatte einen Schönheitsfehler: zu spät hatte ich von meiner Mutter erfahren, dass dieses Papier nur zu einem einmaligen Besuch berechtigte . . .
Der Soldat nahm den Schein in die Hand, fing an, Ihn zu studieren, zog die Augenbrauen hoch und betrachtete mich mit einem Blick, den ich nicht zu deuten wusste. Ich wusste nur eins: das war der Augenblick, nach dem Papier zu greifen und es wieder an mich zu bringen und tat’s. Der Soldat hatte wohl die Erlaubnis nicht zu Ende gelesen und ließ mich passieren.
Später kannten mich die Wachhabenden bereits und ich lief keine Gefahr mehr, den Passierschein zu verlieren, denn man glaubte wohl, ich hätte eine Generalerlaubnis.
Nachdem ich diese Hürde erst einmal genommen hatte, machte ich mich auf den Weg zu dem Schulgebäude, in dem Herr Zimmermann untergebracht war. Wir hatten zwei Schulgebäude und zwischen diesen beiden eine Turnhalle, die quer zum Gelände gebaut worden war. Vor der Turnhalle stand ein alter großer Baum.
Herr Zimmermann hatte uns gesagt, wo er untergebracht war und für mich war es eine Leichtigkeit, ihn zu finden. Er lag mit vielen anderen Soldaten in meinem ehemaligen Klassenzimmer. Die Tür zu dem Raum stand offen. Es war ein warmer Tag. Die Luft war stickig und der Geruch, der mir entgegenschlug, war betäubend. Ich weiß nicht, was man mehr riechen konnte: den Schweiß der Männer, die Desinfektionsmittel oder schwärende Wunden. Für diese Unterscheidung fehlte mir einfach jede Erfahrung. Ich weiß nur, dass ich es fast unerträglich fand. Wenn ich mich nicht so sehr darauf gefreut hätte, meinen Soldaten eine Freude zu machen, hätte ich wohl auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre die Treppe wieder heruntergerannt.
Es waren nur wenige Soldaten im Raum anwesend: Der Mann im Lederbeutel, der mich nicht hören und sehen und mir auch nicht antworten konnte, und ein paar, die noch unfähig waren, die Treppen vom ersten Stock zum Hof zu bewältigen. Ich fragte nach Herrn Zimmermann. Man sagte mir, dass im Augenblick Freistunde sei und die Soldaten, die sich irgendwie bewegen konnten, in der Turnhalle anzutreffen seien. War ich froh, dass ich den Raum wieder verlassen konnte!
Ich lief die Treppen herunter, über den Hof und zur Turnhalle. Als ich die Turnhallentür öffnete, kam mir schon das Gewirr zahlreicher Männerstimmen entgegen. Vor der Halle selbst, in der auch ich schon Sportunterricht gehabt hatte, war der Umkleideraum. Hier – gleich am Eingang zum Umkleideraum – stand mein Herr Zimmermann auf einem Bein, den
Stumpf des anderen über den Handgriff der Krücke gelegt, die ihm somit wie ein Bein diente. Irgendwie beeindruckte mich die Haltung – heute würde ich sagen, dass diese Haltung etwas sehr Lässiges hatte.
Als er mich mit meinen Erdbeerkörbchen entdeckte, winkte er mich heran und stellte mich den Soldaten in seiner näheren Umgebung vor. Ich war so aufgeregt wie noch nicht einmal zu Weihnachten. Ich wusste, mein Geschenk würde eine weit größere Überraschung sein als jedes Weihnachtsgeschenk, an das ich mich erinnern konnte.
Ich streckte ihm meine beiden Körbchen entgegen und wartete darauf, dass er sich welche nehmen würde. Zu meinem größten Schreck reichte er gleich beide Körbchen an die anderen Soldaten weiter, nachdem er sich eine Erdbeere herausgenommen hatte. Ich versuchte, ihn irgendwie davon abzuhalten. Nicht weil ich den anderen nicht auch eine Erdbeere gegönnt hätte. Ich hatte Angst, dass die Anderen meine andere Überraschung finden und für sich behalten könnten. Ich habe keine Ahnung, warum ich das dachte, denn ich erlebte eine Zeit, in der Menschen sehr viel teilten und viel menschlicher miteinander umgingen in ihrer Not, als das jemals wieder der Fall gewesen ist. Aber ich dachte es nun mal.
Und dann war es auch soweit. Ein Soldat schrie: „Mensch, die Kleine hat uns Zigaretten mitgebracht!“ und gleich darauf ertönte die Stimme eines anderen Soldaten: „Mann, hier sind auch welche drin!“ Und so zog der eine Soldat eine Schachtel Gold Dollars aus dem Korb, der andere eine Packung Lucky Strike.
Jetzt ereignete sich etwas, das ich in meinem ganzen Leben nie wieder vergessen kann. Natürlich waren die Schachteln ohnehin nicht mehr voll gewesen, aber selbst wenn – für die zahlreichen Soldaten in der Turnhalle hätten sie auf keinen Fall gereicht. Plötzlich kam mir mein Geschenk so armselig vor.
Und dann kam ich vor Staunen gar nicht mehr zu Atem. Ich wurde nicht nur mit lautem Freudengeheul auf irgendwelche Arme genommen, sondern ich sah auch, wie die Soldaten die filterlosen Zigaretten drittelten und an alle anderen verteilten, so dass ein jeder, der rauchte, bald genüsslich seinen Zigarettenstummel anzündete. Ich wurde von wildfremden Menschen umarmt und geküsst. Als ich endlich wieder auf der Erde stand, rannte ich raus und ließ mich unter dem alten Baum vor der Turnhalle nieder. Ich weinte und weinte und konnte gar nicht begreifen, dass meine Zigaretten für alle ausgereicht und solch eine Freude ausgelöst hatten.
* * * * *
Das war Kapitel 6
© Copyright by ABGrundke seit 2017. Jede Verteilung, Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung ist untersagt und muss von der Autorin ausdrücklich genehmigt werden. Erstveröffentlichung 2017 via Gaby Konradt und Kassandra von Troya ("Hand in Hand zur Menschlichkeit"). Zweite Fassung und Gestaltung 2021 #wirhabendiewahl
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