Ankatrins Erinnerungen – Kapitel 04 – wirhabendiewahl.net

Ankatrins Erinnerungen – Kapitel 04

Diese Geschichte ist real. Wir haben die wundervolle Erlaubnis bekommen, die Erinnerungen einer guten Freundin veröffentlichen zu dürfen. Ein ganz, ganz lieber Dank und Gruß gehen an Ankatrin! (Text: Ankatrin G., Lektorat: Gaby K., Sandra S., Bilder: #WirHabenDieWahl).

Kapitel

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Kapitel 4 – Der Passierschein

Nicht in allen Schulen waren Flüchtlinge untergebracht. In meiner Schule war ein Lazarett mit deutschen, schwerverletzten Soldaten eingerichtet worden. Es waren allesamt Soldaten, die entweder ein oder beide Beine, einen oder beide Arme oder Arme und Beine verloren hatten. Einen Verwundeten sah ich, dem nur noch der Rumpf geblieben war. Wollte er sich aufrichten, so ging dies nur mit Hilfe eines Ledersackes, in dem er steckte und den er über einen Mechanismus so abklappen konnte, dass dieser nach unten fiel und er somit mit dem Oberkörper in die Senkrechte gebracht wurde. Sein Kopf war stark verbunden und man erzählte mir, dass ihm auch ein Stück von der Schädeldecke fehle. Wie ich zu der Kenntnis all dieser Dinge kam?

Eines Tages besuchte uns ein junger Soldat in einer abgerissenen Offiziersuniform. Er hatte ein Bein amputiert und hüpfte an Krücken. Wie sich herausstellte, war er der Sohn einer guten Bekannten meiner Tante. Sein Heimatwohnort war Hamburg. Nach Hamburg durfte er jedoch nicht fahren, da die Verwundeten allesamt noch den Status der Gefangenen besaßen. Er nahm zu uns Kontakt auf, weil er mehr über seine Eltern erfahren wollte. So lernte ich Herrn Zimmermann kennen. Ich liebte unsere Soldaten und alsbald natürlich auch Herrn Zimmermann.

Die Gefangenen durften keinen Besuch von ihren Verwandten oder anderen Deutschen haben. Das Lazarett war bewacht und nur Leuten mit einem Passierschein war der Zutritt gestattet. Diesen Passierschein bekam man jedoch nur beim Stadtkommandanten und unter Nachweis irgendeiner besonderen Dringlichkeit. Was weiß ein kleines Mädchen im Alter von 7 Jahren schon von “besonderen Dringlichkeiten”? Ich hatte das dringende Bedürfnis, nicht nur Herrn Zimmermann hin und wieder bei uns zu sehen – es war ihm der Besuch unserer Familie erlaubt worden – ich wollte ALLE Soldaten besuchen. Es waren MEINE Soldaten und ich wusste, sie hatten gekämpft und nun lagen sie schwerstverletzt in einem Lazarett.

Eines Morgens war ich klammheimlich von Zuhause verschwunden. Ich hatte mich auf den Weg ins Amtsgericht gemacht. Das war der Sitz unseres Stadtkommandanten. Es ist erstaunlich, in welch kurzer Zeit Kinder in der Lage sind, Brocken einer Fremdsprache zu erlernen. Auch ich hatte in diesem ersten Sommer unter britischer Besatzung schon so einige Sätze und Wörter in Englisch gelernt. Ich fand, ich könne genug, um dem Stadtkommandanten klarmachen zu können, dass es kein Fehler sei, wenn er mir die Erlaubnis erteilte, meine Soldaten zu besuchen. Und so schritt ich wacker die Stufen zu der schweren Eingangstür, die ich kaum öffnen konnte, herauf.

Da stand ich nun: Die Eingangshalle schien mir riesig, denn ich war definitiv zu klein geraten. Ich hatte keine Ahnung, ob ich mich nach links, rechts oder nach oben bewegen sollte. Und schon stand da ein großer Kerl in Uniform vor mir. Ich schluckte. Da stand ich nun – vor einem Feind in Uniform. Mutterseelenallein, in einer riesigen Halle mit gedämpften Licht. Am liebsten wäre ich weggelaufen. Ich weiß nicht, ob ich erst rot wurde und dann kräftig schluckte oder umgekehrt. Ich weiß nur, ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und stammelte: “Good morning, how do you do? Ich will zum Kommandanten!”

So, raus war`s! Und höflich war ich auch noch gewesen. Das mag der Soldat auch so verstanden haben und da er das Wort “Kommandant” ebenfalls kannte, ahnte er wohl mein Anliegen. Für ihn muss ich jedoch so etwas wie eine fröhliche Einlage zum Frühstück gewesen sein. Jedenfalls schleppte er mich durch eine Reihe von Amtsstuben, in denen zumeist auch noch mehr von den Uniformen saßen und ließ mich immer wie-der mein Sprüchlein aufsagen. Schließlich war ich den Tränen nahe – und wie es schien, von meinem Ziel, dem Stadtkommandanten, weit entfernt.

Ich weiß nicht, ob der Soldat dachte, dass er mich nun genug herumgereicht hatte oder ob er bemerkte, dass ich kurz davor war, vor Verzweiflung loszuheulen, jedenfalls stand ich ganz plötzlich in einem Raum am Ende des linken Korridors vor einem überdimensionalen Schreibtisch, hinter dem ein Mann in Offiziersuniform über Akten brütete. Als er den Kopf hob, um den seltsamen kleinen Eindringling zu be-trachten, nahm ich meinen letzten Mut zusammen und wiederholte mein Sprüchlein zum ich-weiß-nicht-wievielten Male. Der Mann in der Uniform antwortete mir und jetzt ging es mir so, wie zuvor dem Soldaten: ich verstand lediglich das Wort “Kommandant”.

Ich war also doch noch an mein Ziel gekommen. Der Mann deutete mit einer Handbewegung auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Nachdem ich mich zunächst nicht getraut hatte, mich überhaupt von der Stelle zu rühren (denn inzwischen hatte ich Angst vor meinem eigenen Mut bekommen), wiederholte der Mann seine Handbewegung und sagte in nur schwer verständlichem Deutsch: “Bitte, nehmen Sie Platz.”

Na sowas, ich wurde gesiezt. Das brachte mir flugs einen Teil meiner Courage zurück. Ich ging betont langsam zu dem Stuhl (Mein Gott, ich erinnere mich, als wär das gestern geschehen), setzte mich auf die Stuhlkante und behielt die Tür, die sich links von mir befand, im Auge – man konnte ja nie wissen!

Der Mann fragte, was ich denn wolle und ich versuchte, ihm n der gepflegtesten Sprache, die ich von den Erwachsenen aufgeschnappt hatte, verständlich zu machen, dass ich unbedingt einen “Passagierschein” für das Lazarett benötige. Natürlich wollte der Kommandant nichts davon wissen.

Er versuchte mir klarzumachen, dass es sich hier nicht nur um ein Lazarett sondern auch um Gefangene handele. Das hätte er besser nicht gesagt. Meine Soldaten waren keine Gefangenen!! Ich machte ihm deutlich, dass ich meine Soldaten liebte und sie von mir nichts zu befürchten hätten. Ich wollte sie ja nur besuchen und manchmal Obst aus dem Garten meiner Großmutter mitbringen. Die Zigaretten, die ich bereits im Auge und auch gehortet hatte, erwähnte ich natürlich nicht.

Ich muss wohl so hartnäckig gewesen sein, dass er sich zunächst einmal dazu herabließ, mir einen Riegel Blockschokolade anzubieten. Mir müssen die Augen übergegangen sein. Die einzige Schoko lade, die ich kannte war die CHOCACOLA der Panzerfahrer und Flieger, und die war dünn und rund. Es fiel mir relativ leicht, die Schokolade nicht zu beachten, denn erstens wäre ich möglicherweise eher bei einem Stück Wurst oder Käse schwach geworden und zweitens nahm ich von den Besatzern ohnehin nichts an. Ich wollte meine Besuchserlaubnis!

Also dankte ich artig, indem ich sagte: “Nein danke, das haben wir alles selbst zu Hause!” Ich kann mich noch erinnern, dass mich der Kommandant sehr seltsam ansah. Ich vermute mal, dass ihm die Idee durch den Kopf ging, dass wir entweder schwarzhandelten oder einen intimen Freund der Besatzer in der Familie hätten.

Daraufhin versuchte er es nochmals mit Kakao, dann mit Kaffee. Ich beachtete nichts davon, sondern wiederholte immer und immer wieder meine Bitte um einen “Passagierschein”. Und ich bekam ihn. Darauf stand mein Name. Ich hieß damals Röper mit Familiennamen, und auf dem Zettel stand: Anka-Trinröper.

Ich schämte mich für den Mann, der so alt war und meinen Namen so falsch schrieb, aber ich war glücklich, dieses Stück Papier in Händen zu halten. Bevor ich mich mit dem üblichen Knicks bedankte, drückte er mir noch ein Glas Nescafé in die Hand. Jetzt hatte ich Angst abzulehnen. Ich rannte so schnell wie möglich mit Schein und Kaffee nach Hause.

( … Schokolade für mich: Mit mir nicht! Ich bin unerweichlich! …)

Meine Mutter kam mir in heller Aufregung entgegen. Sie hatte mich schon überall gesucht, die Nachbarn nach mir befragt und hatte Höllenängste durchlitten, dass mir etwas passiert wäre – denn damals passierte reichlich, auch Kindern.

Ich hatte nicht bemerkt, dass ich mehrere Stunden fortgewesen war. Jetzt musste ich befürchten, Stubenarrest zu bekommen. Schnell streckte ich meine Hand mit dem Nescafé aus und überschlug mich geradezu mit Worten, um meiner Mutter von meinem tollen Erfolg zu berichten. Statt der zu erwartenden Predigt sah ich Tränen in den Augen meiner Mutter, sie nahm mich rasch in ihre Arme und murmelte irgendwelche anerkennenden Worte.

 

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Das war Kapitel 4

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© Copyright by ABGrundke seit 2017. Jede Verteilung, Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung ist untersagt und muss von der Autorin ausdrücklich genehmigt werden. Erstveröffentlichung 2017 via Gaby Konradt und Kassandra von Troya ("Hand in Hand zur Menschlichkeit"). Zweite Fassung und Gestaltung 2021 #wirhabendiewahl

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