Ankatrins Erinnerungen – Kapitel 05 – wirhabendiewahl.net

Ankatrins Erinnerungen – Kapitel 05

Diese Geschichte ist real. Wir haben die wundervolle Erlaubnis bekommen, die Erinnerungen einer guten Freundin veröffentlichen zu dürfen. Ein ganz, ganz lieber Dank und Gruß gehen an Ankatrin! (Text: Ankatrin G., Lektorat: Gaby K., Sandra S., Bilder: #WirHabenDieWahl).

Kapitel

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Kapitel 5 – Beschaffungskriminalität einer Siebenjährigen

Die Engländer waren nicht nur in die schönsten Villen unserer Straße eingezogen, sie hatten auch rund um den Bahnhof ein Zeltlager aufgeschlagen. Am Ende der Häuserreihe auf der rechten Straßenseite gleich zu Beginn eines Buchenwaldstückes stand ein Wohnwagen. Er sah aus, wie ein ausgedienter Zirkuswohnwagen – aus Holz und mit gerundetem Dach. Hier hausten zwei Engländer, d.h. sie wohnten, kochten und schliefen in diesem Wohnwagen.

In der Mitte stand ein festgeschraubter Tisch, links und rechts waren zwei Bänke oder in diesem Fall wohl eher zwei Pritschen, auf denen man schlafen konnte. Die Kochstelle war an der Stirnseite. Zum Innenraum des Wohnwagens führten drei kleine Holz-stufen, die bei der oberen Stufe leiterähnlich eingehängt und somit abnehmbar waren. Wochenlang hatte ich diesen Wohnwagen, seine Bewohner, deren Gewohnheiten und das Innere des Wagens beobachten können.

Während mein Bruder nachts mit seinen Freunden die von den Engländern beschlagnahmten und bewachten Waggons der ehemals deutschen Wehrmacht beklauten – hier gab es Unmengen von Fallschirmseideballen, die ein fabelhaftes Tauschobjekt darstellten-, war es zu meiner täglichen Beschäftigung geworden, die Verbrennungsgruben am Waldrand nach noch verwertbaren Haushaltsgegenständen zu durchstöbern, denn hier wurde alles verbrannt, was die Engländer als unbrauchbar deklariert und aus den besetzten Häusern entfernt hatten.

Dabei war auch Geschirr, das natürlich nicht brannte, aber nach dem Feuer unbrauchbar geworden war. Das Plündern dieser Feuerstellen war selbstverständlich verboten und man durfte sich nicht erwischen lassen. Wir schlichen uns nach Möglichkeit schon vor dem Entzünden der Feuerstelle heran. Das war allerdings auch am gefährlichsten, denn zu diesem Zeitpunkt waren die Wachen besonders aufmerksam.

Aber immer wieder gelang es uns, Gegenstände aus den Gruben zu retten. So hatte meine Mutter noch bis zu ihrem Tod ein sogenanntes Buntmesser, mit dem man in Gemüse ein besonderes Oberflächenprofil schneiden kann.

Auf dem Bahnhofsvorplatz standen kleine und große Zelte, in denen die Soldaten mehr oder weniger kampierten. Eines jener Zelte hatte ich auf’s Korn genommen, denn wann immer ich früh morgens auf dem Ge-lände herumstrich, waren vor dem Zelt ein Paar braune Schuhe abgestellt. Ich wollte unbedingt diese Schuhe haben – es gab genug Männer in meiner Umgebung, die schlechtes Schuhwerk hatten, und einem würden sie schon passen.

Also schlich ich mich eines Tages so dicht an das Zelt und die Schuhe, dass ich sie mit einer blitzschnellen Bewegung an mich reißen konnte. Das nächste, woran ich mich erinnere, war ein schmerzhaft fester Griff um mein Handgelenk. Der Soldat, dem die Schuhe gehörten, kroch – mich festhaltend -aus dem Zelt, schrie mich an und versuchte, mich wegzutragen. Ich weiß nicht, was mir alles durch den Kopf ging, doch die Angst, die ich spürte, ließ mich zappeln und mich wehren, was das Zeug hielt. Ich biss, schlug und trat mit den Beinen solange um mich, bis ich merkte, dass der Soldat mich nicht mehr halten konnte.

Plötzlich entkam ich seinem Griff, ließ die Schuhe fallen und rannte wie ein Wiesel in den Wald und auf Umwegen nach Hause. Ich bildete mir ein, dass man so nicht herausfinden konnte, wo ich wohnte. Aber natürlich wussten die Soldaten sowieso von jedem Kind, wo es hingehörte.

Sie wussten mit Sicherheit von unseren anderen kleinen Diebereien – vielleicht wussten sie nicht, wer nachts die Wagons ausräumte, aber uns kleine Diebe kannten sie wohl alle, und heute weiß ich, dass sie es wohl mehr oder weniger tolerierten. Zeiten der Angst und des Hungers, die immer noch nicht fassbaren Umstände nach einem Krieg, der Kapitulation und die Massen hungernder, notdürftig untergebrachter Menschen geben einem mehr Mut als man es je für möglich gehalten hätte – insbesondere natürlich bei einem kleinen Kind.

Irgendwann in den nächsten Tagen entdeckte ich bei den beiden Engländern im Wohnwagen zwei Zigarettenpäckchen auf dem Tisch. Ich war nahe genug, um zu erkennen, dass es sich bei dem einen Päckchen um die grüne Verpackung der Gold Dollars handelte und bei dem anderen um die rotweiße Lucky Strike. Man lernt schnell in solchen Zeiten, besonders die “wertvollen” Dinge prägen sich ein, und so kannte ich sehr schnell die begehrten Zigarettenmarken.

Die beiden Männer standen mit dem Rücken zur Tür an der Stirnseite des Wohnwagens vor der Kochstelle. Offensichtlich bereiteten sie sich gerade ihr Essen zu. Das war d i e Gelegenheit. Ich umging den Wohnwagen von der Seite und schlich mich gebückt zur Treppe. Ein kurzes Auftauchen, ein Blick – die Soldaten standen noch immer mit abgewandten Gesichtern am Herd. Ich schlich mich also ganz vorsichtig die Treppen herauf, überwand den halben Meter Abstand bis zum Tisch und versteckte mich darunter.

Ich hatte mir ganz genau die Lage der Zigarettenschachteln eingeprägt. Unter dem Tisch hockend langte ich über die Tisch-kante nach der einen Schachtel, bekam sie zu fassen und zog blitzschnell meine Hand zurück. Die erste Schachtel stopfte ich in die Taschen der damals obligatorischen Schürze, die die Mädchen trugen. Jetzt die zweite Schachtel – und schwupp war auch diese in der Schürzentasche verstaut. Und jetzt nichts wie raus!

Ich war gerade bei den Stufen angelangt, die ich rückwärts herunterkriechen wollte, als ich ein Paar Stiefel ins Blickfeld bekam und mich am Genick gepackt fühlte. Ich stand schneller senkrecht, als ich denken konnte. Ein wütendes, rotes Gesicht schrie mich an. Ich verstand kein Wort und versuchte mich los zu winden – aussichtslos. Ich stand da und zappelte, hielt meine Schürze mit beiden Händen so, dass die Taschen nicht einzusehen waren und ich nichts daraus verlieren konnte und wollte nur fort.

Nachdem der Soldat eine Weile auf mich eingeschrien hatte, war auch der zweite Soldat auf der obersten Stufe erschienen. Ich weiß nicht warum, aber der erste Soldat versuchte plötzlich, sich halbwegs verständlich zu machen und so fragte er denn in einem mir verständlichen Englisch: “For your father?” Ich schüttelte den Kopf: “No!””For your brother?” Ich schluckte. Mein Bruder, der vielleicht schon geraucht hatte, war tot. Die Tränen stiegen mir heiß in die Kehle und noch heute fühle ich, wie wütend ich in dem Moment wurde. “For whom?” Und da traf ich ihn, das war die falsche Frage gewesen. “Für meine SS – Soldaten!” Ich betonte das SS so scharf, als säßen die zwei Buchstaben in einer Steinschleuder. Ich glaube, der Mann war so erschrocken, hier einen kleinen Nazi am Kragen zu haben, dass er vergaß, mich festzuhalten. Und fort war ich mitsamt meinen geklauten Zigaretten.

Bevor ich erzähle, was ich mit den Zigaretten machte, möchte ich ein paar erklärende Worte zu dem “kleinen Nazi” sagen. Ja, ich mit meinen 7 Jahren war Nazi. Mein Vater, meine Mutter – sie waren nicht in der Partei gewesen. Ich aber liebte den BDM (Bund Deutscher Mädchen), ich liebte ihre Uniformen, ihre Lieder und natürlich unsere Soldaten, die uns vor dem Feind beschützt hatten. So jedenfalls dachte ich damals. Die Auflösung, wie aus einem kleinen Mädchen, das stolz deutschnational war, ein Kosmopolit wurde und wer mich so endgültig und absolut “entnazifiert” hat, werde ich mir bis zum Ende des Buches aufbewahren.

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Das war Kapitel 5

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© Copyright by ABGrundke seit 2017. Jede Verteilung, Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung ist untersagt und muss von der Autorin ausdrücklich genehmigt werden. Erstveröffentlichung 2017 via Gaby Konradt und Kassandra von Troya ("Hand in Hand zur Menschlichkeit"). Zweite Fassung und Gestaltung 2021 #wirhabendiewahl

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